Wolfgang-Andreas Schultz

*  7. September 1948

von Tim Steinke

Essay

Inspiriert vom Bild der indischen Gottheit, deren Tanz im Weltenrad Werden und Vergehen lenkt, entwickelt Schultz in der „Tanzdichtung“ Shiva für Flöte und Orchester (1990/91) ein Bild der Bewusstseinsevolution, wie sie u.a. Jean Gebser beschrieben hat. Nach einer meditativen Einleitung werden in fünf Expositionsphasen fünf Bewusstseinsebenen vorgestellt: ein paradiesischer Urzustand (Diatonik), eine archaisch-magische Welt (rhythmisch betonte Bitonalität), Mittelalter (Modalität), Erwachen der Individualität in einer romantischen Welt (chromatische Melodik und funktionelle Harmonik), und schließlich die Welt des einsamen Ichs in der Moderne (Atonalität). In einem „kosmischen Reigen“ (Schultz' Werkeinführung zu Shiva, 1992, in: Busch 1998, 54), der Durchführung aller Themen, werden diese Ebenen vielfältig kombiniert und in polyphoner Gleichzeitigkeit überlagert als Symbol dessen, was Jean Gebser „integrales Bewusstsein“ nannte (Nbsp. 1).

Chartres war eines der wichtigsten Zentren für die Entwicklung der abendländischen Kultur, in dem sich alle Traditionsströme, die das Abendland geformt haben, vereinten. Schultz' zweisätzige 1. Symphonie „Die Stimmen von Chartres“ (1998/99) macht das Ineinander verschiedener Traditionen hörend erfahrbar: Heidentum, Christentum, griechische Antike, Einflüsse der arabischen Welt sowie Bezüge zum Fernen Osten. Im Zentrum des II. Satzes Innenraum – Der Weg durch zwei Zeiten steht der Hymnus „Crux fidelis“. Die ...